Der Unscheinbare isst Schokoladenpudding und stirbt nicht
Freitag, 23. August 2013, 23:29
Er wird manchmal komisch gefunden, der Günter. Also dieses komisch im Sinne von seltsam, nicht von lustig. Man lacht selten, wenn er was sagt, weil manchmal seine Stimme sehr, sehr dünn ist und man ihn kaum versteht. Wenn man mit vielen Leuten beieinander ist, in Lokalen oder in Bars oder Cafés, wird Günter schnell durchsichtig, aber niemand vermisst ihn dann. Niemand fragt ihn nach seiner Meinung oder Befindlichkeit zu irgendwas. Er ist einfach da. Er ist kein Hindernis. Er ist kein Anlass zur Freude. Niemand weiß, wo er lebt, der Günter. Niemand weiß, wo er nach seiner Arbeit hingeht. Oder was er gern im Fernsehen sieht. Oder ob er überhaupt einen Fernseher hat. Oder eine Frau. Oder einen Hund. Oder zumindest einen Wellensittich, dem man seine Sorgen erzählt, während er kopfüber in einer Körnermischung hängt und sich einen Scheiß für alles andere interessiert.
Was soll man von Günter auch schon krasses in Erfahrung bringen, fragen sich die anderen. Graumäusig sitzt er rum, erledigt sein Business, still und unauffällig. Wenn doch mal ein Gespräch aufkommt, sagt er immer pointenlose Dinge wie Ja, meine Oma hatte auch mal Kaninchen oder Ich weiß auch nicht, wer diese FDP braucht oder Schokoladenpudding sollte man immer mit Vollmilch, niemals mit H-Milch anrühren. Das sind Sachen, die aus Günter rausfallen, in Gesprächen, wo ihm keiner zuhört, wo man dann denkt, ok, hat der auch was gesagt, ist der also doch nicht stumm. Die Unfähigkeit, Pointen in seinem Leben zu haben und diese wie ein Mitarbeiter der Unterhaltungsindustrie auch ins Gespräch mit einzubringen, die lässt Leute denken, der Günter habe kein Leben. Ok, er ist zwar da, aber so wirklich ein Leben hat er auch nicht, der Günter. Unscheinbar ist so ein Wort, dass man verwendet, wenn man über ihn spricht. Und Günter, sagt man dann, Günter ist unscheinbar. Das wars dann. Die meisten Gedanken, Günter betreffend, hören bei der Feststellung auf, dass er unscheinbar ist.
Er, der Günter, musste dann ein paar Tage wegfahren, zu einer Fortbildung, das Business betreffend, in dem er und die anderen arbeiten. Alle anderen aus seiner Abteilung sind auch mitgefahren und abends hat man dann immer an der Hotelbar gestanden und geredet und der Günter, der stand daneben, hat seine unbedeutenden Sätze gesagt und alle anderen haben von Urlauben und anderen hoch wertgeschätzten Dingen gesprochen und der Günter war nie der erste, der ins Bett gegangen ist, aber irgendwann stand er trotzdem allein da, hat aber gelacht, wenn alle lachten und ein betroffenes Gesicht gemacht, wenn es einen Anlass gab, ein betroffenes Gesicht zu machen. Wenn Günter mal auf dem Klo war, tuschelte man manchmal ein bisschen über ihn, aber so richtig wichtig oder besorgniserregend war das nicht, was da besprochen wurde. Nur, dass man ihn komisch fände und wenig über ihn wüsste, aber das dahinter, hinter der Fassade, aus der immer nur pointenlose Floskeln treten, wohl auch nichts von weiterem Interesse wäre.
Günter saß mit seinen Businessfreunden, die eigentlich keine Freunde, sondern nur Business sind an einem Tisch und löffelte Schokoladenpudding. Die anderen aßen alle irgendein Hauptgericht. Da sah man Schnitzel, Kartoffeln, diverse Gemüsesorten. Es war der letzte Tag der Fortbildung, nur noch einen halben Tag lang würde man sich fachbezogene Vorträge anhören. Das Essen kam vom Buffet und dort stand auch in der Tat schon der Nachtisch und Günter hat sich nur einen Schokopudding geholt, während sich alle anderen ein Hauptgericht gönnten. "Der ist aber nicht mit Vollmilch", meinte Günter nach vier Löffeln und aß den Pudding trotzdem weiter. Niemand lachte. Aber alle Anwesenden fanden es seltsam, dass er den Pudding einer normalen Mahlzeit vorzog. Man tuschelte, bis es aus einem jungen Mitarbeiter hervorbrach, der Günter direkt fragte: "Günter, warum isst du erst den Pudding?" Einige Augenpaare starrten auf Günter, andere ignorierten, was er tat, weil sie ohnehin keinen großartigen Satz von ihm erwarteten. Günter legte in Ruhe seinen Löffel beiseite und sagte: "Jeder Mensch, der sich normal ernährt, also Vorspeise, Hauptspeise, Dessert, wird irgendwann sterben. Viele Menschen, die sich so ernährt haben, sind schon tot."
Er machte eine Pause, jetzt hatte er die Aufmerksamkeit aller am Tisch Sitzenden. "Ich will nur versuchen", sagte Günter leise weiter, "dem Tod irgendwie zu entgehen, irgendwie jede Möglichkeit auszuschöpfen." Sprachs, der Günter und griff wieder zum Löffel, um seinen Pudding weiter zu essen. Niemand antwortete darauf, aber das war der Zeitpunkt, an dem man Günter offiziell für verrückt erklärte. Seine Arbeitskollegen waren erstmals von ihm herausgefordert, aber niemand fragte, ob es für diese Theorie Beweise gäbe oder ob es schon andere erfolgreiche Überlebende gab, die sich immer zuerst den Nachtisch vor dem Hauptgericht gönnten. Wenn es ein Witz war, dann ein schlechter und schlechte Witze sind Mist, so war man sich einig. Und Leute die schlechte Witze erzählen, sind auch Mist. Schweigend aß man weiter. Günter holte sich nach dem Pudding kommentarlos einen Teller mit einem Hauptgericht und schwieg, während alle anderen versuchten, mit irgendwelchen Themen wieder eine reguläre Gesprächsordnung wiederherzustellen, von der Günter aber weitestgehend ausgeschlossen war.
402 Jahre später!
Günter sitzt auf einem Ohrensessel an seinem 440. Geburtstag und isst einen Pudding. Schokoladenpudding. Ein paar Haare und Zähne haben ihn verlassen und auch ein paar Menschen, aber es geht ihm gut. Ihm gegenüber sitzen ein paar Reporterroboter, die wissen wollen, was sein Geheimnis ist. Günter sagt, dass man Schokoladenpudding eigentlich mit Vollmilch und nicht mit H-Milch mache und dass man das auch herausschmecke. Außerdem wisse er nicht, was das Geheimnis sei. Er stirbt halt einfach nicht. Sprichts und isst seinen Pudding zuende. Anschließend gibt es ein Hauptgericht.
Dirk Bernemann
Was soll man von Günter auch schon krasses in Erfahrung bringen, fragen sich die anderen. Graumäusig sitzt er rum, erledigt sein Business, still und unauffällig. Wenn doch mal ein Gespräch aufkommt, sagt er immer pointenlose Dinge wie Ja, meine Oma hatte auch mal Kaninchen oder Ich weiß auch nicht, wer diese FDP braucht oder Schokoladenpudding sollte man immer mit Vollmilch, niemals mit H-Milch anrühren. Das sind Sachen, die aus Günter rausfallen, in Gesprächen, wo ihm keiner zuhört, wo man dann denkt, ok, hat der auch was gesagt, ist der also doch nicht stumm. Die Unfähigkeit, Pointen in seinem Leben zu haben und diese wie ein Mitarbeiter der Unterhaltungsindustrie auch ins Gespräch mit einzubringen, die lässt Leute denken, der Günter habe kein Leben. Ok, er ist zwar da, aber so wirklich ein Leben hat er auch nicht, der Günter. Unscheinbar ist so ein Wort, dass man verwendet, wenn man über ihn spricht. Und Günter, sagt man dann, Günter ist unscheinbar. Das wars dann. Die meisten Gedanken, Günter betreffend, hören bei der Feststellung auf, dass er unscheinbar ist.
Er, der Günter, musste dann ein paar Tage wegfahren, zu einer Fortbildung, das Business betreffend, in dem er und die anderen arbeiten. Alle anderen aus seiner Abteilung sind auch mitgefahren und abends hat man dann immer an der Hotelbar gestanden und geredet und der Günter, der stand daneben, hat seine unbedeutenden Sätze gesagt und alle anderen haben von Urlauben und anderen hoch wertgeschätzten Dingen gesprochen und der Günter war nie der erste, der ins Bett gegangen ist, aber irgendwann stand er trotzdem allein da, hat aber gelacht, wenn alle lachten und ein betroffenes Gesicht gemacht, wenn es einen Anlass gab, ein betroffenes Gesicht zu machen. Wenn Günter mal auf dem Klo war, tuschelte man manchmal ein bisschen über ihn, aber so richtig wichtig oder besorgniserregend war das nicht, was da besprochen wurde. Nur, dass man ihn komisch fände und wenig über ihn wüsste, aber das dahinter, hinter der Fassade, aus der immer nur pointenlose Floskeln treten, wohl auch nichts von weiterem Interesse wäre.
Günter saß mit seinen Businessfreunden, die eigentlich keine Freunde, sondern nur Business sind an einem Tisch und löffelte Schokoladenpudding. Die anderen aßen alle irgendein Hauptgericht. Da sah man Schnitzel, Kartoffeln, diverse Gemüsesorten. Es war der letzte Tag der Fortbildung, nur noch einen halben Tag lang würde man sich fachbezogene Vorträge anhören. Das Essen kam vom Buffet und dort stand auch in der Tat schon der Nachtisch und Günter hat sich nur einen Schokopudding geholt, während sich alle anderen ein Hauptgericht gönnten. "Der ist aber nicht mit Vollmilch", meinte Günter nach vier Löffeln und aß den Pudding trotzdem weiter. Niemand lachte. Aber alle Anwesenden fanden es seltsam, dass er den Pudding einer normalen Mahlzeit vorzog. Man tuschelte, bis es aus einem jungen Mitarbeiter hervorbrach, der Günter direkt fragte: "Günter, warum isst du erst den Pudding?" Einige Augenpaare starrten auf Günter, andere ignorierten, was er tat, weil sie ohnehin keinen großartigen Satz von ihm erwarteten. Günter legte in Ruhe seinen Löffel beiseite und sagte: "Jeder Mensch, der sich normal ernährt, also Vorspeise, Hauptspeise, Dessert, wird irgendwann sterben. Viele Menschen, die sich so ernährt haben, sind schon tot."
Er machte eine Pause, jetzt hatte er die Aufmerksamkeit aller am Tisch Sitzenden. "Ich will nur versuchen", sagte Günter leise weiter, "dem Tod irgendwie zu entgehen, irgendwie jede Möglichkeit auszuschöpfen." Sprachs, der Günter und griff wieder zum Löffel, um seinen Pudding weiter zu essen. Niemand antwortete darauf, aber das war der Zeitpunkt, an dem man Günter offiziell für verrückt erklärte. Seine Arbeitskollegen waren erstmals von ihm herausgefordert, aber niemand fragte, ob es für diese Theorie Beweise gäbe oder ob es schon andere erfolgreiche Überlebende gab, die sich immer zuerst den Nachtisch vor dem Hauptgericht gönnten. Wenn es ein Witz war, dann ein schlechter und schlechte Witze sind Mist, so war man sich einig. Und Leute die schlechte Witze erzählen, sind auch Mist. Schweigend aß man weiter. Günter holte sich nach dem Pudding kommentarlos einen Teller mit einem Hauptgericht und schwieg, während alle anderen versuchten, mit irgendwelchen Themen wieder eine reguläre Gesprächsordnung wiederherzustellen, von der Günter aber weitestgehend ausgeschlossen war.
402 Jahre später!
Günter sitzt auf einem Ohrensessel an seinem 440. Geburtstag und isst einen Pudding. Schokoladenpudding. Ein paar Haare und Zähne haben ihn verlassen und auch ein paar Menschen, aber es geht ihm gut. Ihm gegenüber sitzen ein paar Reporterroboter, die wissen wollen, was sein Geheimnis ist. Günter sagt, dass man Schokoladenpudding eigentlich mit Vollmilch und nicht mit H-Milch mache und dass man das auch herausschmecke. Außerdem wisse er nicht, was das Geheimnis sei. Er stirbt halt einfach nicht. Sprichts und isst seinen Pudding zuende. Anschließend gibt es ein Hauptgericht.
Dirk Bernemann
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